Kapitel 4.3
Geschlechtergerechtigkeit
Themen im Fokus
Geschlechtergerechtigkeit bleibt eine zentrale Herausforderung in der globalen Textilindustrie. Insbesondere Arbeiterinnen sehen sich immer wieder mit vielfältigen Formen der Diskriminierung konfrontiert – sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Geschlechtsidentität, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, ihres Migrationsstatus oder einer Behinderung. Häufig spielen nicht nur eine sondern verschiedene Marginalisierungen zusammen und verstärken die Diskriminierung. In ihrem Arbeitsalltag erleben viele Frauen wiederholt geschlechtsspezifische Gewalt, bspw. sexuelle Belästigung, ungleiche Bezahlung, Benachteiligung beim beruflichen Aufstieg sowie Diskriminierung während und nach einer Schwangerschaft. Hinzu kommt die ungleiche Verteilung von Hausarbeit und Kindererziehung, die für viele Frauen zusätzlich zum Arbeitsalltag geschultert werden muss.
Die Gleichstellung der Geschlechter ist jedoch notwendige Bedingung und grundlegende Voraussetzung, damit die Wirtschafts- und Arbeitswelt fair, nachhaltige und zukunftsfähig gestaltet werden kann und Teil der Vision des BNT einer würdigen, sicheren und gesunde Arbeitswelt, frei von Diskriminierung und Gewalt.
Um diesen Missständen wirksam zu begegnen, haben das Textilbündnis und seine Mitglieder im Rahmen der Bündnisinitiative Advancing Worker Led Agreements on Gender Justice, der Bündnisinitiative Gender Data Gap und durch ein neues Kooperationsprojekt mit der Ethical Trading Initiative an der konkreten Umsetzung verschiedener Maßnahmen gearbeitet.
Auf der Textilbündnis-Website finden Sie weitere Informationen zum Fokusthema Geschlechtergerechtigkeit
Bündnisinitiative Advancing Worker Led Agreements on Gender Justice
Die Bündnisinitiative Advancing Worker Led Agreements on Gender Justice setzt sich für die Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz und stärkere Mitbestimmung von Frauen in der Textilindustrie in Indien ein. Im Rahmen der Initiative verhandelt das Textilbündnis mit interessierten Markenunternehmen und deren Zulieferern über separate, rechtsverbindliche Abkommen nach dem Vorbild des Dindigul Agreements.
Begleitend werden zudem umfassende Capacity Building-Maßnahmen umgesetzt, die sowohl lokale Gemeinschaften als auch Arbeiterinnen in den Fabriken im Sinne der Vereinigungsfreiheit stärken. Dazu zählen unter anderem Schulungen für höhere Positionen, der Einsatz und die Qualifizierung interner Beschwerde-Komitees und Betriebsbeobachter*innen sowie die Etablierung eines geschlechtersensiblen Beschwerde-Mechanismus.
Die Frauen sollen dazu ermutigt und befähigt sein, sich gewerkschaftlich zu organisieren, mitzubestimmen und durch den geschlechtssensiblen Mechanismus sexuelle Belästigung, Missbrauch oder Diskriminierung wirksam und ohne Angst vor Vergeltungsmaßnahmen zu melden. Unabdingbar dafür ist die Beziehungsbildung zwischen Zulieferbetrieb und Arbeiterinnen, sowie das starke Engagement der Markenunternehmen.
Im November 2024 waren FEMNET und das Bündnissekretariat vor Ort in Tamil Nadu um von den Arbeitnehmer*innenvertretungen des Dindigul Agreements über die Fortschritte und Herausforderungen nach zwei Jahren in der Umsetzung zu sprechen, von Arbeiterinnen aus erster Hand zu hören, was gewerkschaftliche Organisierung für sie bedeutet, zu lernen wie gewerkschaftliche Organisation funktioniert und mit der lokalen Umsetzungsorganisation Asia Floor Wage Alliance den weiteren Prozess zu planen.
Diese Mitglieder und Partner beteiligten sich an der Bündnisinitiative Advancing Worker Led Agreements on Gender Justice
Zivilgesellschaftliche Akteure:
FEMNET e.V.
Weitere Umsetzungspartner:
Society for Labour and Development (SLD), Asia Floor Wage Alliance (AFWA) und Global-Labour Justice – International Labour Rights Forum (GLJ-ILRF)
Bündnisinitiative Gender Data Gap
Das Ausmaß geschlechtsspezifischer Diskriminierung ist bisher schwer zu ermitteln und äußert sich nicht überall gleich. Einer der Hauptgründe dafür ist der sogenannte „Gender Data Gap“, der Mangel an transparenten Daten in diesem Bereich, sowie eine generell niedrige Meldequote. Diese Datenlücken spiegeln sich auch in der derzeitigen, unzureichenden Methode der Datenerhebung, zum Beispiel durch Audits, wider. Die Bündnisinitiative Gender Data Gap setzt genau hier an, um diese Lücke in der Datenerhebung zu minimieren, geschlechtsspezifischer Diskriminierung effektiv entgegenwirken zu können und somit langfristig die Arbeitsbedingungen für Frauen in der Textilindustrie zu verbessern.
Im Rahmen der Initiative wurden in diesem Jahr bedeutende Fortschritte bei der Entwicklung eines „Assessment & Action Guides“ gemacht. Um geschlechtsspezifische Diskriminierung besser zu verstehen, wurde mit dem Guide ein Instrument entwickelt, welches das Sammeln von Daten zur Diskriminierung ermöglicht. In zwei tunesischen Zulieferbetrieben wurde dieser anschließend pilotiert, getestet und die gesammelten Daten im Anschluss ausgewertet. Basierend auf den Ergebnissen konnten geeignete Maßnahmen identifiziert und mit den lokalen Produktionsstätten umgesetzt werden, um geschlechtsspezifischer Diskriminierung entgegenzuwirken und die Wirksamkeit des Tools zu evaluieren.
Flyer Seite 2: Einblick in Methoden des Guides
Im Juli 2024 kamen die Projektbeteiligten zu einem zentralen Workshop in Bonn zusammen, um Maßnahmen und inhaltliche Schwerpunkte gemeinsam abzustimmen und festzulegen. Im Dezember folgte eine Abschlussreise nach Tunesien, bei der die teilnehmenden Zulieferbetriebe besucht und die Wirkung des Projekts vor Ort in einem weiteren Workshop reflektiert wurden. Die Perspektiven der Beteiligten flossen direkt in die Weiterentwicklung der Projektergebnisse ein. Auf dieser Grundlage wurden der „Assessment & Action Guide“ sowie ein umfassender Fragebogen mit Auswertungstool und Maßnahmenplan finalisiert.
Der Fragebogen konzentrierte sich auf zentrale Herausforderungen für Frauen in der Textilbranche – darunter Arbeitssicherheit für Schwangere, Aufstiegschancen für Frauen sowie psychische und physische Gewalt am Arbeitsplatz. Die Ergebnisse der Befragung boten wertvolle Erkenntnisse zur Verbesserung der Situation vor Ort. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen wurden gemeinsam mit den Projektpartnern konkrete Maßnahmen und Empfehlungen entwickelt. Dazu zählen vor allem die Einführung spezifischer Richtlinien zur Förderung von Geschlechtergerechtigkeit sowie gezielte Schulungen zur Sensibilisierung und zum Kapazitätsaufbau, um das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Herausforderungen im Arbeitsumfeld und für die eigenen Rechte zu stärken.
Nach der Pilotierung des Tools in den tunesischen Produktionsstätten steht der „Assessment & Action Guide“ anderen Bündnismitgliedern sowie der Öffentlichkeit zur Verfügung. Der Guide ist zudem so konstruiert, dass er sich an unterschiedliche Länderkontexte anpassen lässt, in vielen relevanten Sprachen bereitsteht und von verschiedenen Stakeholdern verwendet werden kann.
Diese Mitglieder und Partner beteiligen sich an der Bündnisinitiative Gender Data Gap
Unternehmen:
Hess Natur-Textilien GmbH & Co. KG, GERRY WEBER International GmbH, Global Standard gemeinnützige GmbH (GOTS)
Zivilgesellschaftliche Akteure:
FEMNET e. V.
Weitere Umsetzungspartner:
Hessnatur Stiftung
Neues Kooperationsprojekt mit Ethical Trading Initiative
Im April 2024 hat das Bündnis für nachhaltige Textilien ein neues Kooperationsprojekt mit der Ethical Trading Initiative (ETI) gestartet, um die Kapazitäten der Zulieferer zur Erhebung und Nutzung geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselter Daten zur Lieferkette zu stärken.
Seit 2020 arbeitet das BNT bereits gemeinsam mit seinen Mitgliedern zu dem Thema geschlechtsspezifische Daten, mit dem Ziel, Sorgfaltspflichten geschlechtergerechter umzusetzen. Auch die Ethical Trading Initiative (ETI) startete 2021 ihre Gender-Daten-Initiative, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, warum die Erhebung und Analyse geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselter Daten für eine effektive menschenrechtliche Sorgfaltspflicht notwendig ist. Im März 2022 veröffentlichten dann ETI und das Textilbündnis gemeinsam mit den Partnerorganisationen Business Social Responsibility (BSR), Fair Wear Foundation, dem niederländischen “Agreement on Sustainable Garments and Textiles” sowie Sedex einen gemeinsamen Leitfaden für geschlechterspezifische Daten. Dieser zeigt auf, wie geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte Daten entlang der Lieferkette auf Basis des Gender Data and Impact (GDI) Frameworks und Tool von BSR erhoben werden können.
Ein zentrales Feedback aus der Zusammenarbeit mit Modemarken zu dem Leitfaden: Viele Zulieferer sind bisher nicht dazu in der Lage, verlässliche geschlechtsspezifische Daten zu erheben. Das erschwert fundierte Due-Diligence-Prozesse und behindert Fortschritte bei der Verbesserung von Arbeitsbedingungen für Frauen. Auch fehlt für die Zulieferbetriebe der Anreiz diese Daten zu erheben, der sogenannte „Business Case“.
Das gemeinsame Kooperationsprojekt von ETI und Textilbündnis begegnet diesem Problem gezielt. In indischen Zulieferbetrieben der Bündnismitglieder Hugo Boss und KiK sowie der ETI-Mitglieder The Very Group und Morrisons wurden 2024 Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau umgesetzt. Dazu zählen Bedarfsanalysen, Schulungsprogramme sowie die Entwicklung von praxisnahen Anleitungen und Lernprodukten. Durch diese gezielten Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau, sowie die Entwicklung eines Business Case für geschlechtsspezifische Datenerhebung werden Zulieferer künftig besser dazu in der Lage sein, geschlechtsspezifische Daten zu erfassen, auszuwerten und richtig einzuordnen. Das Kooperationsprojekt steht zudem im engen Austausch mit der Bündnisinitiative Gender Data Gap um von Synergien zu profitieren und den Erkenntnissen zu lernen.
E-learning zu Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion von Menschen mit Behinderungen
Bereits 2023 hat die Entwicklung eines e-learnings gestartet, welche die Intersektion zwischen geschlechtsbasierter Diskriminierung und der Inklusion von Menschen mit Behinderungen thematisiert. Die Herausforderungen, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, werden insbesondere durch geschlechtsspezifische Ungleichheiten verschärft. Frauen und Mädchen mit Behinderungen werden häufig aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Behinderung diskriminiert. Sie haben unter Umständen noch weniger Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und wirtschaftlichen Möglichkeiten als Männer mit Behinderungen.
Der Privatsektor spielt eine entscheidende Rolle beim Abbau von Barrieren und Ungleichheiten. Unternehmen müssen nicht nur sicherstellen, dass ihre eigenen internen Praktiken und Strategien geschlechtergerecht und integrativ sind, sondern auch, dass ihre Zulieferer und Geschäftspartner dieselben Werte teilen. Dies erfordert eine systematische Zusammenarbeit entlang der gesamten Lieferkette, um Diskriminierung, unfaire Arbeitsbedingungen und Ausbeutung von Arbeitskräften zu erkennen und zu bekämpfen.
Das e-learning soll das Bewusstsein schärfen und umsetzbare Strategien zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und der Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in Unternehmensnetzwerken, globalen Lieferketten und Unternehmensstrukturen vermitteln. Dies geschieht durch die Aufbereitung von grundlegenden Informationen bzgl. Geschlechtergerechtigkeit und Inklusion von Menschen mit Behinderungen, der Vermittlung umsetzbarer Strategien zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und der Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in Unternehmensnetzwerken, globalen Lieferketten und Unternehmensstrukturen, wobei einer der behandelten Sektoren der Textilsektor ist.
Im Laufe des Jahres 2024 wurde die Skripterstellung für das e-learning abgeschlossen, bei dem u.a. auch die Textilbündnismitglieder bei Workshops zur Ideenfindung eingebunden waren um das e-learning für die Zielgruppe relevant und interessant zu gestalten. Gegen Ende des Jahres wurde das finale Skript dem technischen Dienstleister zur Umsetzung für einen digitalen Kurs auf der Plattform atingi übergeben.